
Wie wir mit Abfall umgehen, zeigt mehr als nur Umweltbewusstsein – es spiegelt kulturelle Werte und gesellschaftliche Normen wider. In der Schweiz wird die Müllentsorgung zu einer beinahe heiligen Praxis. In Portugal bleibt Abfall ein Tabuthema, unsichtbar und selten zur Sprache kommend. Argentiniens Ansatz, geprägt von ökonomischer Notwendigkeit, verleiht Abfall durch die «Cartoneros» neue Bedeutung.
Über die kulturellen Unterschiede im Umgang mit Abfall in ihren Ländern unterhalten sich die Semiotiker/-innen Ximena Tobi, Sónia Marques und Peter Glassen.
Peter Glassen (PG): Ich dachte viele Jahre, dass nur die Deutschen eine obsessive Beziehung zur Entsorgung ihres Haushaltsmülls haben.1 Doch in der Schweiz scheint die korrekte Trennung und Entsorgung ein Teil der kulturellen DNA zu sein. Zweimal die Woche können wir in unserem Berner Quartier die blauen Kehrichtsäcke an den Strassenrand stellen. Als ich dies vor einiger Zeit am Vorabend des Abfuhrtags tat, klingelte es kurz darauf an der Tür. Unsere Nachbarin Frau Gerber wies mich freundlich, aber bestimmt darauf hin, dass ich den Sack zwei Stunden zu früh an die Strasse gestellt habe. Es sei erst ab 19 Uhr erlaubt. «Wo kämen wir denn hin in unserer sauberen Schweiz!» Ich fühlte mich ertappt. Wie ist das bei euch in Argentinien und Portugal? Überwachen eure Nachbarn auch die Entsorgung des Hausmülls?
Sónia Marques (SM): Ich fürchte, dass eine Haltung wie die von Frau Gerber in Portugal auf heftige Kritik stossen würde. Eine solche Einmischung der Nachbarn in alltägliche Entscheidungen erinnert viele an die Zeit des Faschismus. Abfall und Recycling gehören hier in den Bereich des Unaussprechlichen. Sie sind mit Ekel, Scham, Zensur und Tabus verbunden. Über Abfall zu sprechen bedeutet, das Unreine und Unangenehme anzusprechen – und das wird nach Möglichkeit vermieden.
Aber es ist interessant, was du über die Schweiz sagst. In Portugal wird dieser Fokus auf Abfall oft als typisch schweizerisch beschrieben. Die Schweiz gilt als schön und vorbildlich, aber die Abfalltrennung wird oft als «zu komplex» oder «übertrieben» angesehen. Es gibt eine gewisse Faszination, aber auch ein Unverständnis – wie in Pulp Fiction, wenn die Europäer Mayonnaise auf Pommes frites tun, was für andere Kulturen unverständlich ist
Ximena Tobi (XT): In Argentinien würde man das Verhalten von Frau Gerber wahrscheinlich als aufdringlich oder unnötig empfinden. Zwei Stunden früher oder später macht hier nicht viel aus, solange der Müll abgeholt wird. Die Abfallentsorgung ist eine öffentliche Angelegenheit, die jeden betrifft, aber sie wird selten privat diskutiert.
Wie Sónia sagt, ist der Abfall hier oft unsichtbar. Er verschwindet in der Tonne, im Container und schliesslich auf riesigen Mülldeponien. Diese Unsichtbarkeit führt dazu, dass sich die Mülltrennung «unnatürlich» anfühlt, auch wenn Städte wie Buenos Aires inzwischen Recyclingprogramme haben. Für viele Argentinierist die Mülltrennung immer noch eher die Ausnahme als die Regel.
PG: Das ist spannend! Während Müll in Portugal und Argentinien also eher unsichtbar bleibt, wird er in der Schweiz regelrecht zelebriert. In meiner Nachbarschaft gibt es einen «Entsorgungshof», wohin wir grössere Mengen Abfall bringen können. Allein der Name – «Entsorgungshof» – ist sprachlich interessant. Es klingt, als würde man seine Sorgen loswerden.
Am Eingang bekommt man eine Chipkarte, die den Zugang erlaubt. Farbige Piktogramme und Wegweiser zeigen an, wo Glas, Papier, Metall, Elektroschrott oder Chemikalien entsorgt werden. Alles ist detailliert geregelt. Für mich hat das etwas Rituelles: wie eine Beichte in der Kirche. Man geht beladen (mit seinen «Sünden») hinein, entledigt sich seiner Last und zahlt am Ende einen kleinen Obolus. Befreit und «geläutert» verlässt man den Hof. Wäre diese religiöse Interpretation vielleicht ein Ansatz für euch? Liesse sich durch Sprache und Bilder in Portugal eine neue Bedeutung für Müll entwickeln?
SM: Das ist eine interessante Frage! In Portugal besteht definitiv ein Bedarf an neuen Bedeutungen für Abfall. Das Konzept der Kreislaufwirtschaft wird hier nicht gut verstanden, und das hat zum grossen Teil mit der Sprache zu tun. Wir sprechen selten über die lineare Wirtschaft. Begriffe wie «entsorgen» oder «wegwerfen» sind allgegenwärtig, sogar auf Recyclingtonnen. Dadurch wird unbewusst eine Verbindung zwischen Recycling und Entsorgung hergestellt. Es fehlt der Kontrast, der die Vorteile der Kreislaufwirtschaft verdeutlichen könnte. Und dann ist da noch die Frage des Eigentums: In Portugal werden Verpackungen oft als Eigentum des Verbrauchers betrachtet. Wenn man etwas kauft, gehört einem nicht nur der Inhalt, sondern auch die Verpackung. Dies fördert eine Denkweise, die dem Recycling zuwiderläuft, denn Eigentum bedeutet Freiheit – und für viele bedeutet Freiheit: «Ich kann tun, was ich will.»
Deshalb arbeiten wir daran, Verpackungen als etwas Geliehenes neu zu denken. In einigen Regionen Nordportugals fordern die Recyclingzentren die Bürger auf, Verpackungen «zurückzugeben», anstatt sie zu «entsorgen». Diese kleine sprachliche Veränderung verändert die Wahrnehmung und motiviert die Menschen zu einem bewussteren Umgang mit Abfall.
XT: Das ist ein guter Punkt. Sprache formt die Welt, in der wir leben. In Argentinien begann die Kreislaufwirtschaft vor etwa 20 Jahren – lange bevor sie zu einem globalen Thema wurde. Hier haben wir keine neuen Verben wie «zurückgeben» eingeführt, sondern ein neues Substantiv: cartoneros. Das sind Müllsammler, die während der Wirtschaftskrise Anfang der 2000er-Jahre begannen, Pappe, Papier oder Glas zu sammeln, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Heute sind viele dieser Cartoneros in Genossenschaften organisiert und betreiben Recyclingzentren. Ihre Arbeit macht Abfall sichtbar– sie zeigen, dass Müll eine Ressource sein kann. Gleichzeitig liegt die Verantwortung für die Abfallentsorgung hier in der Regel bei der Regierung, nicht bei den Bürgern. Jeder Haushalt zahlt eine Gebühr für die Strassenreinigung und die Müllabfuhr, und viele sehen dies als ihre einzige Verpflichtung an.
PG: Das ist faszinierend – vor allem, wie die Cartoneros in Argentinien eine neue soziale Rolle geschaffen haben. In der Schweiz gibt es zwar keine Entsprechung, aber auch hier hat die Kreislaufwirtschaft ihren Preis: Mülltrennung und Recycling erfordern Disziplin und kulturelle Anpassung. Ebenso bleiben Fragen offen, wie zum Beispiel die nach der Nachhaltigkeit des Kunststoffrecyclings, der weiterhin zu rund 83% in Kehrichtverbrennungsanlagen verbrannt wird.2
Aber vielleicht hilft es, Abfall als einen Spiegel der Kultur zu betrachten. Was als «Unordnung» beginnt, wird durch Bilder, Sprache und Verhaltensweisen in eine Art Ordnung verwandelt. Gleichzeitig offenbart dieser Spiegel die Schwächen unserer Systeme. Sónia, Ximena – wie seht ihr die Rolle von Müll als kulturellen Spiegel in euren Ländern?
SM: Für Portugal würde ich sagen, dass der Abfall vor allem das zeigt, was wir lieber nicht sehen wollen. Die Idee der Sauberkeit basiert auf Verdrängung. Aber das macht es schwierig, neue Verhaltensweisen zu etablieren. Abfall als Teil des Lebens zu akzeptieren, wäre ein grosser Schritt für unser Land.
XT: In Argentinien spiegelt der Abfall die soziale Ungleichheit wider. Die Cartoneros gibt es, weil die Wirtschaft versagt hat. Sie sind eine Lösung, aber auch ein Symptom. Gleichzeitig zeigt ihre Arbeit das Potenzial für einen kulturellen Wandel: Sie haben uns gelehrt, Abfall nicht nur als Problem, sondern auch als Ressource zu sehen.
XT, SM, PG: Abfall ist mehr als nur das, was wir wegwerfen – er ist ein Spiegel unserer Werte und gesellschaftlichen Strukturen. In der Schweiz ist die Abfalltrennung fast ein spiritueller Akt, der auf Ordnung und Verantwortung beruht. In Portugal symbolisiert die Abfallbewirtschaftung die Herausforderungen des kulturellen Wandels hin zu einer Kreislaufwirtschaft, während in Argentinien die Cartoneros zeigen, wie wirtschaftliche Notwendigkeiten soziale Innovationen vorantreiben können.
Für uns Semiotiker sind diese kulturellen Kontraste nicht nur faszinierend – sie enthalten auch eine wichtige Lehre. Umwirksame und nachhaltige Botschaften zu schaffen, müssen wir zunächst die individuellen Bedeutungen entschlüsseln, die im Abfall stecken. Nur dann können wir die Menschen in ihrem kulturellen Umfeld dazu inspirieren, gemeinsam für eine nachhaltige Zukunft zu handeln.
FUSSNOTEN
1 https://sensoneo.com/de/welt-abfall-index.
2 www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/abfall/abfallwegweiser-a-z/kunststoffe.html.
Ximena Tobi
ist eine argentinische Semiotikerin und qualitative Forscherin. Im Jahr 2009 war sie Mitbegründerin des Semiótica Studio, das auf dem lateinamerikanischen und spanischen Markt tätig ist. Sie lehrt Semiotik an der Universität von Buenos Aires. semioticastudio.com
Sónia Marques
ist Werbesemiotikerin und lebt in Lissabon, Portugal. Sie gründete 2003 Indiz, ein Unternehmen, das Pionierarbeit in der Marktforschung mit kulturellem Bezug leistet. Sie ist Gastdozentin an der Porto Business School und war Mitorganisatorin des Semiofest Porto 2024. indiz.pt
Peter Glassen
ist Markenberater und Semiotiker. Er berät und begleitet Unternehmen und Organisationen bei der strategischen Entwicklung ihrer Marken. Als Gründer des Schweizer Expert*innen-Netzwerks für angewandte Semiotik legt er einen Fokus auf kulturelle Codes und Zeichen. semiotics.ch
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.